Die Entwicklung von BrainNet-Technologien – also Netzwerken, die mehrere Gehirne direkt miteinander verbinden – markiert einen möglichen Wendepunkt in der Geschichte der Mensch-Maschine-Interaktion. Während die klassische Neurotechnologie darauf abzielt, einzelne Gehirne mit Computern zu koppeln, geht BrainNet weiter: Nicht mehr nur der Mensch mit der Maschine, sondern Mensch mit Mensch – direkt über neuronale Schnittstellen.
In einer Welt, in der Datenströme längst digitalisiert sind, scheint es nur noch ein logischer Schritt zu sein, dass auch das Bewusstsein Teil des Netzwerks wird. Doch wohin führt dieser Weg – und sind wir bereit dafür?
BrainNets bezeichnen experimentelle Systeme, in denen mehrere Gehirne synchronisiert oder verbunden werden, um Informationen direkt – ohne Sprache oder Gestik – auszutauschen. Technisch handelt es sich um die Kopplung von Brain-Computer Interfaces (BCIs) mit Brain-to-Brain Interfaces (BBIs), bei denen einerseits neuronale Aktivität aufgezeichnet (z. B. via EEG) und andererseits gezielt beeinflusst wird (z. B. durch TMS oder Ultraschall-Stimulation).
Die Vision: Ein kollektives mentales Netzwerk, in dem Gedanken, Entscheidungen und sogar Gefühle in Echtzeit geteilt werden können.
Ein vielzitiertes Beispiel ist das „BrainNet“-Experiment der University of Washington (Rao et al., 2019), bei dem drei Probanden gemeinsam ein Spiel steuerten, indem zwei Personen dem dritten Teilnehmer über TMS Entscheidungsimpulse ins Gehirn sendeten. Die Kommunikation war simpel – binär, wie ein Ja/Nein-Signal – doch sie funktionierte.
Während diese Versuche noch stark limitiert sind, etwa in Signalauflösung und Informationsdichte, wird kontinuierlich an invasiven Technologien gearbeitet (z. B. durch Unternehmen wie Neuralink), die eine deutlich tiefere Integration ermöglichen sollen. Damit rückt ein Szenario in Reichweite, in dem komplexe Informationen – Wissen, Emotionen, Wahrnehmungen – zwischen Gehirnen ausgetauscht werden könnten.
Die Idee eines kollektiven Bewusstseins oder einer „Hive Mind“ ist zentral in transhumanistischen Konzepten. BrainNets könnten ein erster technischer Schritt dorthin sein:
- Das Individuum wird zum Knoten in einem Netzwerk – mit der Gefahr des Identitätsverlustes.
- Autonome Gedanken könnten durch kollektive Entscheidungsprozesse ersetzt oder unterdrückt werden.
- Privatsphäre wäre im eigentlichen Sinne nicht mehr existent – wo beginnt ein Gedanke, wo endet die Kontrolle darüber?
Was hier technologisch als Fortschritt präsentiert wird, wirft tiefgreifende Fragen nach Freiheit, Verantwortung und Menschenwürde auf. Wer entscheidet, was „gesendet“ wird – und was empfangen werden darf? Wer kontrolliert die Schnittstellen? Und was passiert, wenn sich wirtschaftliche oder politische Interessen mit direktem Zugang zum menschlichen Geist verbinden?
Kritische Perspektiven: Die Gefahr der Entmenschlichung
Die Euphorie über mögliche Anwendungen – etwa für Medizin, Bildung oder Kommunikation – darf nicht den Blick auf die Risiken verstellen:
- Gedanken als Ware: Wenn neuronale Aktivität Daten werden, sind sie prinzipiell speicherbar, auswertbar und manipulierbar.
- Technologische Ungleichheit: Wer Zugang zu solchen Schnittstellen hat, könnte nicht nur schneller lernen oder kommunizieren – sondern auch Macht über andere ausüben.
- Fehlende Regulierung: Während Daten- und Biorecht hinterherhinken, entwickeln Firmen bereits invasive Prototypen. Die Gesellschaft ist weder rechtlich noch ethisch vorbereitet.
BrainNets sind keine bloße Science-Fiction mehr. Die Grundlagen existieren, erste funktionierende Systeme sind real. Auch wenn diese heute noch primitiv wirken, ist der Weg zur direkten, hochauflösenden Gedankenvernetzung technisch absehbar – und damit auch der Übergang in eine neue Form des Menschseins, in der der Einzelne möglicherweise zugunsten eines kollektiven Bewusstseins zurücktritt.
Die offene Frage bleibt: Wollen wir diese Entwicklung – und wenn ja, zu welchem Preis?
Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, ob BrainNets zu einem Instrument menschlicher Kooperation oder zur Vorstufe einer technokratischen Kontrolle über Geist und Gesellschaft werden.
Der britische Informatiker Andrew Adamatzky beschäftigt sich im Rahmen seines Forschungsgebiets der „unconventional computing“ mit lebenden Systemen (z. B. Schleimpilzen, Myzel‑Netzwerken) als biologische Superstrukturen für Informationsverarbeitung und Signalübertragung. Seine Forschung impliziert, dass auch natürliche Netzwerke – nicht nur neuronale Gehirne – über Kommunikations‑ und Rechenkapazitäten verfügen könnten, was philosophisch anschlussfähig ist an die Idee von vernetzten Bewusstseinszuständen oder kollektiven Netzwerken wie jene, die im Konzept von „BrainNets“ diskutiert werden.
Der US‑Nanowissenschaftler Charles M. Lieber arbeitet im Bereich nano‑bioelektronischer Schnittstellen, etwa durch die Entwicklung ultraflexibler, neuronähnlicher elektrischer Netzwerke („mesh electronics“), die langfristig mit Hirngewebe interagieren können. Seine Vision, dass Elektronik und menschliches Gehirn zunehmend verschmelzen könnten („the merging of human cognition with machines“) unterstreicht kritisch die Richtung, in der sich „BrainNets“ – als Vernetzung von Gehirnen, Maschinen und Netzwerken – bewegen könnten.
Literatur & Quellen (APA-Stil):
- Rao, R. P. N., Stocco, A., Bryan, M., Sarma, D., Youngquist, T. M., Wu, J., & Prat, C. S. (2019). Human Brain-to-Brain Interface for Direct Collaboration Between Brains. Scientific Reports, 9(1), 6115. https://doi.org/10.1038/s41598-019-41895-7
- Ienca, M., & Andorno, R. (2017). Towards new human rights in the age of neuroscience and neurotechnology. Life Sciences, Society and Policy, 13(1), 5. https://doi.org/10.1186/s40504-017-0050-1
- Yuste, R., Goering, S., Arcas, B. A. Y., Bi, G., Carmena, J. M., Carter, A., … & Wolpaw, J. (2017). Four ethical priorities for neurotechnologies and AI. Nature, 551(7679), 159–163. https://doi.org/10.1038/551159a
- Nicolelis, M. A. L. (2015). Beyond Boundaries: The New Neuroscience of Connecting Brains with Machines—and How It Will Change Our Lives. Times Books.
Videotip: Dr. Graham Downing
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