Es gibt einen Schleier, der sich über unsere Welt gelegt hat – still, unsichtbar und doch allgegenwärtig. Ein Schleier aus Gedanken, aus Angst, aus alten Geschichten, die wir immer wieder erzählen, bis wir sie für Realität halten. Dieser Schleier flüstert uns zu, dass wir getrennt sind: voneinander, von der Schöpfung, von Gott – und letztlich auch von uns selbst. Doch dieser Schleier ist nicht die Wahrheit. Er ist eine Konstruktion des Verstandes, genährt durch Jahrhunderte des Vergessens. Eine Illusion, die uns glauben lässt, wir seien isoliert: getrennte Inseln im Ozean der Existenz. Dabei sind wir in Wahrheit das Meer selbst.
Wir haben vergessen, dass hinter jedem Gesicht das gleiche Licht leuchtet. Dass das Leben in einem Baum, in einem Tier, in einem Kind, in einem Fremden – das gleiche Leben ist, das auch in uns pulsiert. Nicht ähnlich – sondern eins.
In der Stille, jenseits des Lärms der Welt, können wir das spüren. In einem stillen Moment zwischen zwei Gedanken. In einem tiefen Atemzug. Im Blick eines geliebten Menschen. In der Natur. Oder im Gebet. Da erinnern wir uns. Wir erinnern uns, dass wir nicht getrennt sind – nie getrennt waren. Dass die Trennung nur eine Erfahrung ist, kein endgültiger Zustand. Dass der Schmerz der Isolation nur deshalb so weh tut, weil er gegen unsere wahre Natur gerichtet ist.
Die Wurzeln der Trennung sind tief. Sie stecken in Systemen, in Religionen, in Hautfarben, in Grenzen auf Landkarten. In Urteilen, die wir fällen, noch bevor wir zuhören. In Mauern, die wir aus Angst bauen – Mauern zwischen Völkern, zwischen Glaubensrichtungen, zwischen Herz und Verstand. Und mit jeder Mauer, die wir errichten, schneiden wir uns ein Stück weiter von uns selbst ab.
Denn was wir dem anderen antun – sei es durch Worte, Taten oder Schweigen – tun wir in Wahrheit uns selbst an. Wenn wir verurteilen, verurteilen wir einen Aspekt unserer eigenen Seele. Wenn wir zerstören, verletzen wir den Boden, auf dem wir stehen. Diese Illusion hat uns lange im Griff gehabt. Doch die Zeit des Erinnerns ist gekommen. Wir dürfen – und müssen – uns neu erinnern. Erinnern, dass Liebe nicht nur ein flüchtiges Gefühl zwischen zwei Menschen ist, sondern der Urgrund unserer Existenz. Dass Vergebung nicht Schwäche bedeutet, sondern die Kraft, uns von der Vergangenheit zu befreien. Dass Einheit nicht Gleichförmigkeit bedeutet, sondern tiefe Verbundenheit in aller Vielfalt.
In der Tiefe unseres Seins sind wir keine getrennten Wesen. Wir sind Zellen eines größeren Körpers, Wellen eines Ozeans, Noten eines göttlichen Liedes. Und wenn wir das wieder begreifen, ändert sich alles. Wenn wir die Trennung auflösen – innen wie außen – beginnt Heilung. Persönlich. Kollektiv. Global.
Konflikte verlieren ihre Schärfe, wenn wir im Gegenüber nicht mehr den Feind sehen, sondern einen Teil von uns.
Umweltzerstörung wird sinnlos, wenn wir erkennen, dass die Erde nicht etwas außerhalb von uns ist – sondern unser lebendiger Körper. Einsamkeit vergeht, wenn wir begreifen, dass die göttliche Gegenwart in jedem Wesen wohnt – und in jedem Moment zugänglich ist.
Wir müssen also lernen, mit dem Herzen zu sehen.
Mit der Seele zu hören.
Mit Mitgefühl zu handeln.
Nicht, weil es naiv ist – sondern weil es wahr ist.
Denn in der Einheit liegt unsere Erlösung. Nicht in der Flucht in Ideologien oder in der Abgrenzung, sondern im bewussten Schritt aufeinander zu. In der Fähigkeit, hinter den Unterschieden das Gemeinsame zu erkennen. In der Entscheidung, nicht länger im Urteil zu leben, sondern im Verstehen.
Wenn der Schleier fällt, bleibt nur das Licht.
Das Licht, das wir nie verloren haben – nur vergessen.
Und wenn wir bereit sind, diese Illusion der Trennung loszulassen, dann öffnen wir die Tür zu einer anderen Wirklichkeit: einer Welt, in der Verbindung, nicht Spaltung, der Grundton des Lebens ist.
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